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AutorenbildSabine Bobert

20. Jahrhundert: Rudolf Steiner. Mystik contra Materialismus



Rudolf Steiner (gest.1925) wurde 1861 als Sohn des Bahnbeamten und Telegrafisten Johann Steiner und der Mutter Franziska Steiner geboren. Er wuchs mit seinen zwei jüngeren Geschwistern in einfachen Verhältnissen auf. In autobiographischen Texten spricht Steiner davon, dass er als Kind hellsichtig eine Verstorbene gesehen habe und dass er als Jugendlicher Kants „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen habe. Von 1882 bis 1897 arbeitete Steiner als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Ferner war Steiner ein großer Verehrer und Kenner Nietzsches. Er begrüßte Nietzsches Rede vom „Tod Gottes“ im Sinne eines jenseitigen und allmächtigen Wesens. „An Gottes Stelle den freien Menschen!“ 1897 bis 1900 gab Steiner in Berlin zusammen mit Otto Erich Hartleben das „Magazin für Literatur“ heraus und veröffentlichte hier viele Texte zu philosophischen, politischen und künstlerischen Zeitfragen. John Schikowski, ein sozialistischer Kunstkritiker, schrieb in seinem Nachruf für Steiner im sozialdemokratischen „Vorwärts“ über den Steiner der gemeinsam verlebten Berliner Jahre: „Der Weltanschauung nach war er Haeckelianer, Materialist und Atheist, politisch nannte er sich Anarchist und wir Sozialdemokraten galten ihm als Bourgeois. Was ihn übrigens nicht hinderte, im Rahmen sozialdemokratischer Bildungsorganisationen Vorträge über literarische Themen zu halten. In seiner Lebensführung war er durchaus Libertin, voller Lust am irdischen Dasein und recht hemmungslos im ausgiebigen Genuss dieses Daseins.“ (Vögele, Der andere Rudolf Steiner, 2005, 106f) Steiners Hauptgegner war der gelebte und gedachte Materialismus. Hierfür konnte er an viele zeitgenössische Bewegungen anknüpfen. Das, was heute in der freien spirituellen Szene Gemeingut ist, war bereits in Helena Petrovna Blavatskys summarischen Werken „Isis entschleiert“ 1877 und „Die Geheimlehre“ 1888 zusammengefasst. Der spirituelle Katechismus um 1900 lautete:

  • Es gibt eine „spirituelle Sonne“ als Urgrund, seine Erkenntnis als Heilsziel des Menschen.

  • Eine Lebenskraft als „Fluidum“ bzw. „Äther“ durchdringt alles. Sie ist wissenschaftlich erkennbar und zugleich religiös.

  • Der Mensch hat in seinem „Ätherleib“ Anteil am „Fluidum“. Diese Teilhabe ist die Quelle okkulter (spiritueller) Kräfte.

  • Es gibt höhere, unsichtbare Welten und Mittler.

  • Der Mensch kann an der Geisterwelt teilhaben.

Blavatsky formulierte Steiners Ziele im großen Ganzen vor: (a) eine okkulte Schulung für alle, (b) eine Theorie des Übersinnlichen anstelle reiner spiritueller Experimentierfreude, (c) die Verbindung von Spiritualität, vernunftgeleiteter Philosophie und den Naturwissenschaften, (d) die Formulierung einer „höheren Wahrheit“, die hinter den überlieferten Religionen stehe. Schon Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1870), Augenarzt, Professor an den Universitäten Heidelberg und Marburg sowie aktives Mitglied im Bund der Freimaurer, formulierte in seinem Werk „Theorie der Geister-Kunde“ 1808, dass der Mensch nicht nur (a) den physischen Körper habe, sondern auch (b) einen Lichtkörper – den ätherischen Körper – der den physischen Körper überhaupt erst belebe, und dass (c) das eigentliche Wesen des Menschen der ewige Geist sei. Dieser Geistkörper sei der primäre Leib. Der Mediziner und Professor Joseph Ennemoser von der Universität Bonn erforschte Phänomene wie Geistheilen, Energieübertragung und andere mystische Vorgänge. Er fasste sie in der Tradition des Arztes und Freimaurer-Ordensbegründers Franz Anton Mesmer (1734-1815) unter dem Begriff des „animalischen Magnetismus“ zusammen (heutzutage am ehesten verständlich als: elektromagnetische Kraftfelder, die Lebewesen aussenden und steuern). Sein Buch „Geschichte der Magie“ von 1844 bildete gleichfalls eine wichtige Grundlage. Steiners Karriere als spiritueller Redner, Autor und Lehrer begann zunächst im Rahmen der von Blavatsky 1875 begründeten „Theosophischen Gesellschaft“. Gegenüber den orientalisch ausgerichteten Theosophen profilierte er sich durch die Betonung des menschlichen Wesenskerns, des Ich, sowie der Einmaligkeit der Person Jesu Christi – im Unterschied zu dessen Einreihung in eine Linie hochentwickelter Meister (vgl. Steiners 1902 publizierter Vortrag „Das Christentum als mystische Tatsache“). Steiner wurde zu Lebzeiten vor allem durch seine über 6.000 Vorträge bekannt, die goßteils erst posthum (von Steiner meist unredigiert) gedruckt wurden. Zu Lebzeiten erschienene Standardwerke der Anthroposophie sind die „Theosophie“ (1904) und „Geheimwissenschaft im Umriß“ (1910). Nach Konflikten und dem Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft begründete Steiner seine eigene Bewegung: die „Anthroposophie“, die er auch „Geisteswissenschaft“ nannte. Anthroposophie versteht sich als eine Methode zur individuellen Bewusstseinsentwicklung. Steiner versteht den Menschen als gegliedert in vier aufeinander aufbauenden Stufen bzw. Körpern (vgl. oben: Jung-Stillings Menschenbild). Dies sind: (1) der physische Leib (Körper), (2) der Ätherleib oder Lebensleib, (3) der Astralleib und (4) das Ich. Im Bilde gesprochen könnte man sprechen von (1) Stein (mineralisches Reich), (2) Pflanze und (3) Tier. Sie sollen in den bewussten Dienst des (4) menschlichen Ich gestellt werden, damit es sich durch sie mit der Erde verbindet. Steiner stellt Menschen die Aufgabe und gibt ihnen Methoden, diese unteren drei Körper durch vertiefte Selbstwahrnehmung mit Bewusstsein zu durchdringen und dadurch zu vermenschlichen. Dadurch entwickelt sich sowohl der einzelne Mensch als Persönlichkeit weiter als auch die Menschheit als Gattungswesen. Im Schlaf, so meint Steiner, erneuert der Ätherleib (sozusagen unser Pflanzenkörper) den physischen Körper und dessen Organe. Nach dem Tod löst sich, so Steiner, dieser Ätherleib innerhalb weniger Tage auf. In dieser Zeit nimmt der Sterbende dessen Inhalte als Lebensrückblende wahr. Nach der Auflösung und Verdichtung dieser Inhalte betritt der Verstorbene die reine Geisteswelt (mit unterschiedlichen Ebenen) und bewohnt sie bis zu einer Wiederverkörperung. Die Wiederverkörperung (Reinkarnation) sei von Impulsen aus den Vorleben bestimmt (Karma). Auf dem Höhepunkt seines Schaffens wandte Steiner Anthroposophie auch auf Theater („Mysteriendramen“), Tanzkunst („Eurythmie“), Medizin, Landwirtschaft (biologisch-dynamisch) und Pädagogik (Waldorfschule) an. Ferner initiierte er durch theologische Vorträge und durch die Konzipierung von liturgischen Texten 1922 „Die Christengemeinschaft – Bewegung für religiöse Erneuerung“. Zu den von Steiner gegebenen und als unveränderlich geltenden Ritualen zählen der Kultus der „Menschenweihehandlung“ sowie sieben Sakramente, einschließlich der Priesterweihe. Als unterscheidend zu den großen christlichen Kirchen der damaligen Zeit stellt die Christengemeinschaft heraus: (a) das seit 1922 bestehende Priestertum der Frau, (b) Lehrfreiheit, (c) freie Gemeinden sowie (d) ein Ernstnehmen der biblischen Schöpfungsberichte, dahingehend verstanden, dass es eine Phase der Weltentstehung gab, in der Geist und Materie noch ungetrennt waren. Steiners spezifisches Verständnis von Jesus Christus wird im Credo der Christengemeinschaft besonders deutlich. Christus ist der, durch den „die Menschen die Wiederbelebung des ersterbenden Erdendaseins erlangen“. „Im Tode wurde er Beistand der verstorbenen Seelen, die ihr göttliches Sein verloren hatten. (…) Er wird einst sich vereinen zum Weltenfortgang mit denen, die Er durch ihr Verhalten dem Tode der Materie entreißen kann.“ Gott Vater wird im Credo „Daseinsgrund“ genannt, der „väterlich seinen Geschöpfen vorangeht“. Steiner, der von der damals innovativen Evolutionstheorie Ernst Haeckels fasziniert war, griff diesen Gedanken auch in seiner Anthroposophie auf. Er versteht die Schöpfung nicht als einmalig und beendet, sondern als evolutionären Weltprozess. Ausgehend von einem anfänglichen Weltzustand, in dem Geist und Materie noch verbunden waren (und in dem die Materie noch quasi luftiger war als heute), entwickelt sich der Kosmos stufenweise erneut zu einer Vergeistigung hin. Dieses Einswerden mit Gott ist die „Auferstehung des Fleisches“. Zitate über und von Steiner: Selma Lagerlöf über Rudolf Steiner: „Der Mann ist ein ganz merkwürdiges Phänomen, das man versuchen sollte, ernst zu nehmen. Er verkündigt einige Lehren, an die ich lange geglaubt habe, unter anderem, dass es in unserer Zeit nicht angeht, eine Religion voll unbewiesener Wunder anzubieten: sondern die Religion muss eine Wissenschaft sein, die bewiesen werden kann, es gilt nicht mehr zu glauben, sondern zu wissen. Weiter, dass man sich selber durch ein festes, bewusstes, systematisches Denken Kenntnis von der Geisteswelt erwerben kann. Man soll nicht dasitzen wie ein träumender Mystiker, sondern durch Anstrengungen seines ganzen Denkvermögens dahin gelangen, die Welt, die uns sonst verborgen ist, zu sehen. Das ist wahr und richtig, und dazu ist alles bei ihm vertrauenswürdig und klug ohne Charlatanerie. In einigen Jahren wird seine Lehre von den Kanzeln verkündet werden.“ (in: Kugler, Feindbild Steiner, 2001, 59f) Steiner: „Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie diejenige der gewöhnlichen Mystik durchschaut“ (GA 35, S. 66) Steiner: „Sie (sc. Anthroposophie) will eine Eröffnung der Tore zu einer übersinnlichen Welt sein. Und sie will diese Welt nicht durch bloßes spekulatives Denken finden, sondern durch wirkliche Wahrnehmung, welche der menschlichen Seele ebenso zugänglich ist wie die Wahrnehmung der physischen Sinne. (…) Diese Kräfte können durch Meditation und durch eine energische Konzentration des inneren Empfindungs- und Willenslebens wachgerufen werden.“ (GA 35, S. 145f) Quellentexte von Steiner Online: Rudolf-Steiner Online Archiv. Schriften – Vorträge – Briefe – Dokumente, Internetseite der Brigham Young University (BYU): anthroposophie.byu.edu Biographien: Gerhard Wehr, Rudolf Steiner. Leben – Erkenntnis – Kulturimpuls, 1987. (kurz, anthroposophisch) Helmut Zander, Rudolf Steiner. Die Biographie, 2011 (ausführliche kulturgeschichtliche Einbettung)


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