Eine Schlüsselrolle bei einer transreligiösen und zugleich alltagstauglichen Annäherung an den gemeinsamen Kern von Mystik kann Abraham Maslows (1908-1970) Definition von „Gipfelerfahrungen“ (peak experiences) und seine Beschreibung der Qualitäten dieser Erfahrungen anhand von „Seinswerten“ spielen. Im Folgenden stelle ich beide summarisch vor.
1. Mystik ist in der biologischen Natur angelegt
Der US-amerikanische Psychologe und Gründervater der Positiven Psychologie Abraham Maslow versteht den Menschen von seiner biologischen Natur her auf mystische Gipfelerfahrungen zur vollen Gesundheit und Wesensentfaltung hin angelegt. „Der Mensch besitzt eine höhere und transzendente Natur, und sie ist Teil seines Wesens, d.h. seiner biologischen Natur als Mitglied einer Gattung, die der Evolution entsprungen ist.“[1] Diese transzendente Natur zu entfalten, gehört zum Projekt Menschwerdung. „Das ´Projekt´ ist für alle Menschen biologisch umschrieben; es besteht darin, Mensch zu werden.“[2] „Wenn wir wohlauf und gesund sind und das Konzept ´Mensch´ angemessen erfüllen, sollten Erfahrungen der Transzendenz im Prinzip zur Normalität werden.“[3]
Mystische Erfahrungen gehören nach Maslow zum innersten Wesen eines jeden gesunden Menschen. Daher arbeitet Maslow mit einer nicht-religiösen Begrifflichkeit und Methodik. Sie machen Menschen glücklicher und richten das Leben auf höhere Werte aus (vgl. hier 2.2.5). Mystische Kernerfahrungen bezeichnet er nicht-religiös als „peak experiences“, „Gipfelerlebnisse“. „Die zweite große Lektion, die ich gelernt habe, lautete, dass dies eine natürliche, keine übernatürliche Erfahrung war, und ich gab die Bezeichnung ´mystische Erfahrungen´ auf und nannte sie ´Gipfelerlebnisse´. Sie können wissenschaftlich untersucht werden. … Sie befinden sich innerhalb der Reichweite des menschlichen Wissens, sind keine ewigen Geheimnisse. Sie befinden sich in der Welt, nicht außerhalb der Welt.“[4]
2. Mystische Erfahrungen sind alltäglich und weltlich
Maslow betont die Weltlichkeit und Alltäglichkeit von Gipfelerfahrungen. „Diese Erfahrungen hatten meist nichts mit Religion zu tun, zumindest nicht im normalen übernatürlichen Sinne. Sie entstammten den großen Augenblicken von Liebe und Sex, den großen ästhetischen Augenblicken (insbesondere Musik), den Ausbrüchen von Kreativität und kreativem Furor (der großen Inspiration), den großen Augenblicken der Einsicht und der Entdeckung, bei Frauen dem Erleben einer natürlichen Geburt – oder der bloßen Liebe zu den Kindern, den Augenblicken der Verschmelzung mit der Natur (im Wald, an der Küste, auf den Bergen, etc.), gewissen sportlichen Erfahrungen wie Schnorcheln, Tanzen, etc.“[5] Gipfelerfahrungen treten spontan und religiös voraussetzungslos auf. „Sie benötigen nicht unbedingt eine jahrelange Ausbildung oder ein Studium. Sie beschränken sich nicht auf randständige Menschen, d.h. Mönche, Heilige oder Yogis, Zen-Buddhisten, Orientalen oder Menschen in einem besonderen Stand der Gnade. Gipfelerlebnisse sind nicht etwas, das im Fernen Osten vorkommt, an besonderen Orten oder einem speziell geschulten oder auserwählten Volk.“[6]
Metaphorisch spricht Maslow von der alltäglichen Gegenwart des Himmels, der jedem jederzeit offenstehe. „Der Himmel ist überall um uns herum, steht im Prinzip immer zur Verfügung, bereit, für in ein paar Minuten betreten zu werden. Er ist überall – in der Küche, bei der Arbeit oder auf einem Basketballplatz – überall dort, wo Vollkommenheit passieren kann, wo Mittel zum Zweck werden oder wo ein Job richtig gut gemacht wurde. Das Leben allseitiger Verbundenheit ist leichter erreichbar, als jemals erträumt, und eine Sache ist ganz offenbar – Forschung bringt es noch näher und macht es verfügbar.“[7]
Organisierte Religion unterliegt nach Maslow der Gefahr, eine Aufspaltung des Lebens in einen heiligen und einen profanen Bereich zu initiieren. „Bloß einen Teil des Lebens religiös zu gestalten, säkularisiert dessen Rest.“[8] Maslow geht es um den Alltag und die Mitte des Lebens. „Es findet statt in der Mitte des Lebens, widerfährt alltäglichen Menschen in alltäglichen Berufen.“[9]
3. Definition „Gipfelerlebnis“
Maslows metaphorische Hauptdefinition von Gipfelerlebnissen ist die eines Besuchs im Himmel. „Ich liebe die Metapher für das Gipfelerlebnis, dass es ein Besuch in einem persönlich definierten Himmel sei, von dem jemand auf die Erde zurückkehre...dass er zu jeder Zeit für alle von uns um uns herum existiere, man ihn jederzeit wenigstens für eine kleine Weile betreten könne.“[10]
Gipfelerlebnisse „sind wie ein plötzliches Stolpern in den Himmel; wie das Wunder, das geschehen ist, wie die schließlich erlangte Vollkommenheit.“[11] Sie sind unter anderem gekennzeichnet durch Augenblicke großer Ehrfurcht, intensiven Glücks gar Glückseligkeit. Sie geben Menschen „das Gefühl, dass sie wirklich die ultimative Wahrheit, das Wesen der Dinge, das Geheimnis des Lebens gesehen hätten, als wäre ein Schleier beiseite gezogen worden.“[12]
Gipfelerfahrungen wirken transformativ. Sie können die Weltanschauungen und den Charakter eines Menschen ändern. „Eine klare Wahrnehmung... zu haben, dass das Universum aus einem Stück sei und dass man seinen Platz in ihm habe – man sei Teil von ihm, gehöre ihm an - kann eine so tiefe und erschütternde Erfahrung sein, dass die den Charakter und die Weltanschauung der betreffenden Person für immer ändert.“[13]
4. Passivität als Zugang zur Mystik
Maslow betont als wichtigste Voraussetzung für Gipfelerfahrungen eine passive, empfangende Haltung. „Die günstigste Geistesverfassung, um sie zu ´empfangen´, ist fast eine Art Passivität, ein Vertrauen oder eine ´Kapitulation´, eine taoistische Haltung des Gewährenlassens ohne Störung oder Eingriff. Man muss in der Lage sein, Stolz, Wille, Macht, Steuerung, Kontrolle aufzugeben. Man muss in der Lage sein zu entspannen und es passieren zu lassen.“[14]´Passivität´ meint, „zu vertrauen, sich zu entspannen und empfänglich und taoistisch zu sein, Dinge ohne Eingreifen laufen zu lassen, demütig zu sein und sich zu fügen.“[15] Die Seins- bzw. „S-Erkenntnis im Gipfelerlebnis ist passiver und aufnehmender, demütiger, als normale Erkenntnis. Sie ist bereiter und fähiger, zuzuhören.“[16]
Da es sich um alltägliche Transzendenzerfahrungen handelt, verweist Maslow als analoge Beispiele für die passive Grundhaltung auf Sexualität, Einschlafen oder auch Wasserlassen. „So läuft die ganze Sache nicht bloß in religiöser Bekehrung oder mystischer Erfahrung ab, sondern auch in der Sexualität. Es ist sehr einfach, sexuelle Elemente in der mystischen Literatur ausfindig zu machen, und man kann leicht einsehen, dass eine sexualfeindliche Religion etwas Derartiges ablehnen musste“.[17] „Gleiches gilt für Wasserlassen, Stuhlgang, Schlafen, Entspannung, etc. Alles das beinhaltet die Fähigkeit, loszulassen, die Dinge geschehen zu lassen. Willenskraft stört nur. In diesem gleichen Sinne scheint es, als ob der Einsatz von Willenskraft Gipfelerlebnisse hemme.“[18]
Der passiven Grundhaltung entspricht das Erleben von Gnade. „Während und nach Gipfelerlebnissen fühlen Leute sich charakteristischerweise freudig, glücklich, begnadet.“[19]
Entsprechend fragt Maslow auch nach Hindernissen, die die passive Grundhaltung blockieren können. „Was verhindert, das zu tun? Ganz allgemein jene Kräfte, die uns klein machen, pathologisieren, die uns in den Regress führen, also zu Dummheit, Schmerz, Krankheit, Furcht, ´Vergessen´, Dissoziation, Reduktion auf das Konkrete, Neurotisierung usw.“[20] Auch „Angst vor Emotionen und Kontrollverlust und Zartheit“ sind hinderlich.[21]
5. Seins-Werte-Erfahrung als mystische Kernerfahrung
Menschen erleben in Gipfelerfahrungen bestimmte Werte als selbstevident. Maslow nennt sie
„S-Werte“, Seins-Werte.[22] Wichtig ist, dass es sich bei S-Werten nicht um Emotionen der Erlebenden handelt. „Die Beschreibung der S-Werte, verstanden als Aspekte der Realität, sollten unterschieden werden von den Haltungen und Emotionen des Seinskenners gegenüber dieser genannten Realität und deren Attributen, etwa Ehrfurcht, Liebe, Bewunderung…“[23]
Maslow versteht S-Werte über die mystische Kernerfahrung hinaus als Merkmale gesunden Lebens, das seine ganze Fülle entfaltet. S-Werte fungieren daher als Kriterien für eine funktionierende Religion, für Menschen förderliche gesellschaftliche Institutionen und für eine Bildung, die den Menschen zur höchsten Selbstentfaltung führt. Maslow zitiert Henry Geiger: „Eine Bildung, die den ganzen Bereich des transzendenten Denkens unberührt lässt, ist eine Bildung, die nichts wichtiges über die Bedeutung des menschlichen Lebens zu sagen hat.“[24] Wegen der zentralen Rolle der Seins-Werte rang Maslow seinerzeit dafür, die Wertefrage von religiöser Dominanz zu
befreien.[25]
„Peak experiences“ lassen folgende Seinswerte aufscheinen:
Wahrheit: Ehrlichkeit, Realität, Nacktheit, Einfachheit, Reichtum, Wesentlichkeit, Schönheit, Reinheit, unverfälschte Vollständigkeit.
Schönheit: Recht, Form, Lebendigkeit, Einfachheit, Reichtum, Ganzheit, Perfektion, Vollständigkeit, Einzigartigkeit, Ehrlichkeit.
Lebendigkeit: Prozess, Nicht-Todsein, Bewegung, Ewigkeit, Fließen, Selbstverewigung, Spontaneität, sich selbst bewegende Energie, Selbstformierung, Selbstregulation, volles Funktionieren, sich verändern und dennoch der gleiche bleiben, sich selbst ausdrücken, Unendlichkeit.
Mühelosigkeit: Leichtigkeit, Fehlen von Anstrengung, Sehnsucht oder Schwierigkeit, Anmut, vollkommenes und schönes Wirken.
Ferner nennt und erläutert Maslow folgende Seinswerte: Gutheit, Ganzheit, Überwindung von Einseitigkeit, Einzigartigkeit, Perfektion, Notwendigkeit, Vollständigkeit, Gerechtigkeit, Einfachheit, Reichtum, Spielend, Selbstgenügsamkeit.[26]
6. Mystik als Basis zur Religionskritik
Maslow misst Religionen an der Aufgabe und ihrer Fähigkeit, Menschen zur Wesensentfaltung durch Gipfelerlebnisses führen und ihnen – durch die transformierende Erfahrung von peak experiences – die Seinswerte zur Lebensorientierung zu erschließen. Die gelingt, wenn Religionen sich auf ihre mystischen Wurzeln rückbesinnen. Jede Religion entstamme ja einem Gipfelerlebnis. Dysfunktional werden Religionen, wenn sie Worte, Standbilder, Rituale, Dogmen etc. nicht mehr als Mittel zu diesem Zweck verstehen oder gar als unantastbar (als heiligen Fetisch) betrachten. Sie behindern dann Menschen, das Leben voll auszuschöpfen.[27] Im Extremfall entwickeln sie eine Abwehrhaltung oder Feindschaft gegen mystische Gipfelerfahrungen.
„(…) organisierte Religion kann gedacht werden als ein Versuch, Gipfelerlebnisse Gipfellosen zu vermitteln, sie ihnen zu lehren, für sie verfügbar zu machen usw. Um es noch komplizierter zu machen, fiel diese Aufgabe oft in die Hände von Gipfellosen. (… ) Die Gipfelerlebnisse und ihre empirische Gegebenheit lässt sich für gewöhnlich Gipfellosen nicht vermitteln, wenigstens nicht durch Worte allein, und gewiss nicht durch Gipfellose. Stattdessen konkretisieren die Leute, besonders die ignoranten, die ungebildeten und die naiven, die Symbole, die Worte, Standbilder, Zeremonien und verwandeln durch einen Prozess der funktionalen Autonomie sie anstelle der ursprünglichen Offenbarung in die heiligen Dinge und die heiligen Handlungen.“[28]
[3] A.a.O., 84. [4] A.a.O., 18. [5] A.a.O., 17f. [6] A.a.O., 21. [7] A.a.O., 26. [8] A.a.O., 82. [9] A.a.O., 21. [10] A.a.O., 120. [11] A.a.O., 17. „Als habe man einen Augenblick im Himmel verbracht“ (28). [12] A.a.O., 16. [13] A.a.O., 113. [14] A.a.O., 25. [15] A.a.O., 32. [16] A.a.O., 119. [17] A.a.O., 32. [18] A.a.O., 33. [19] A.a.O., 121. [20] A.a.O., 83. [21] A.a.O., 30. [22] A.a.O., 118. [23] A.a.O, 149. [24] A.a.O., 111. [25] A.a.O., 110. [26] „Anhang G: S-Werte als Beschreibung der Wahrnehmung während Gipfelerlebnissen“, in: a.a.O., 146-151. [27] A.a.O., 85. [28] A.a.O., 75.
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