Frau Bobert, das Thema Mystik ist ein riesiges, weltweites Thema – aber Sie sagen, es geht dabei um ganz kleine, geradezu minimalistische Übungen. Das setzt schon dabei ein, dass ich Mystik nicht so sehr als Weg in das „Übernatürliche“ verstehe, sondern als Weg zu unserer wahren Natur. Und die wartet darauf, wachgeküsst oder freigeschaltet zu werden. Der Hauptweg ist, sich weg von der verstreuten Aufmerksamkeit und wieder auf sich selbst hin zu konzentrieren, auf die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungsmotive. Und dazu reichen schon ganz kleine Übungen. Das müssen Sie erklären. Wir sind unheimlich aktiv in unserer Kultur. Aktivität ist, so scheint es uns, schon so etwas wie ein Wert in sich. Die Frage dabei ist allerdings, für wen ich „meinen Hintern bewege“, wer sich in meinen Handlungen „verkörpert“. Unsere Handlungsmotive sind oft geliebt zu werden, Anerkennung zu erhalten, Beziehungen zu pflegen. Letztlich aber ist das, was wir suchen, glücklich zu sein. Dazu muss ich aber selbst erst einmal herausfinden, welche Handlungen mich glücklich machen. Eine meiner Übungen nenne ich daher „Glückseligkeitshandlung“. Zuerst frage ich die Leute: Schau mal, bei welcher Tätigkeit im Alltag du glücklich bist! Das können wieder ganz normale, kleine Sachen sein - Gartenarbeit, Fahrrad fahren, in der Sonne liegen. Und das ist dann für jeden einzelnen der ganz persönliche Maßstab für „ich bin glücklich“. Meistens sind wir bei diesen Handlungen ganz bei uns selbst. Es sind keine Konflikte mehr da. Und als nächstes sage ich: Kürze das ab zu einer Mini-Geste und versuche, mitten im Alltag, zu jeder vollen Stunde, diese Mini-Geste auszuüben und in das Gefühl einzutauchen, das du bei dieser Lieblings-Tätigkeit hast. Wer das macht, merkt sehr schnell, was glücklich macht und was Kraft abzieht. So gewinnen wir überhaupt erstmal einen Maßstab fürs Glücklichsein. Glück, Mystik, vielleicht sogar Erleuchtung – das klingt dennoch alles sehr groß. Es geht schon ums große Ganze, oder? Also ich verstehe unter Mystik den Weg der tendenziell vollständigen Selbstbewusstwerdung. Psychologen oder Coaches arbeiten ja heutzutage mit dem Bild des Eisbergs und sagen, so wie etwa nur fünf 5 Prozent des Eisbergs aus dem Wasser ragen, so sind wir uns selbst nur etwa 5 Prozent bewusst. Der Rest sind verinnerlichte Forderungen von Anderen und Routinen - und all das läuft auf Autopilot. Und an dieser Stelle kann es wichtig sein, den Kurs zu überprüfen. Ich sehe in Jesus den zu 100 Prozent bewusst gewordenen Menschen. Es ist also schon ein großes Projekt, so vollbewusst zu werden wie er. Da schlummert noch ganz viel Potential in unseren Köpfen. Das sind eben die ganzen grauen Zellen, die nicht dazu da sind, versoffen zu werden, sondern die lauter Speicherchips sind, die wir noch freischalten können. Das ist ein riesiges Projekt, es geht um Menschwerdung. Aber in vielen, ganz kleinen Schritten mit kleinen Übungen – oder geht das sprunghaft? Oder muss man nur einen kleinen Schritt zur Seite treten, um einen ganz anderen Blick auf sich und die Welt zu haben? Bei vielen passiert mit den kleinen Übungen schon nach einem halben Jahr üben der große Sprung. Dass sie wahrnehmen, wie fremdgesteuert sie sind, dass sie herausfinden, warum sie bisher nicht glücklich werden. Es wird uns ja antrainiert, dass das Glück im Außen sei. Und es ist ein Qualitätssprung zu entdecken, was wir schon alles mitbringen. Es ist alles schon in uns da! Es gibt ja Menschen, die Nahtod-Erfahrungen machen, ich gehöre auch dazu. Und die tauchen in dieser Erfahrung plötzlich in dieses vollbewusste Menschsein ein. Glückseligkeit, Frieden, Liebe, das ist für die so überwältigend, dass sie gar nicht mehr in dieses Leben zurückwollen. Und um es krass zu sagen: All das, was dabei erfahren wird, ist hier und jetzt schon in jedem Menschen! Nur weil die Aufmerksamkeit verrückt, verrutscht und zersplittert ist, weil wir das Glück im Außen suchen, deshalb entdecken wir es nicht. Deshalb sagen auch Zen-Lehrer, das was du suchst, ist wie die Brille, die du schon auf der Nase hast. Du bist es schon, du merkst es nur nicht. Welche Möglichkeiten gehen uns dann auf? Es entsteht dann eine Kultur der Einfühlung. Weil wir schon immer so etwas sind wie WLAN-Wesen. Wir senden aus und wir sind auf Empfang, aber wir sind uns dessen nicht bewusst. Wir funken einander ständig an, auf elektromagnetischen Frequenzen. Die sind sogar inzwischen messbar. Und diese Prozesse stehen uns dann zunehmend bewusst zur Verfügung. Unsere Haustiere zum Beispiel sind Mystiker. Katzen oder Hunde spüren sofort, wie Herrchen oder Frauchen drauf ist. Katzen versuchen dann, sich auf die Störzonen zu legen und schnurren uns ruhig. Wir selbst sind aber auch Naturwesen. Wir können dieses Funknetz der Tiere in uns auch freischalten. Die derzeitige Kultur lehrt ja ganz oft die Antithese Kultur contra Natur. Aber mir schwebt aus Sicht der Mystiker eine Kultur vor, die auf der Natur aufbaut und sie nicht bekämpfen will, sondern die ihre Weisheit sieht und nutzen will. Kleine Kinder spüren noch häufig direkt die Gefühle ihrer Eltern. Auch Menschen, die viel im zwischenmenschlichen Bereich arbeiten, checken das Kraftfeld einer Gruppe, so dass Worte nur noch zur Präzision verwendet werden müssen. Um diese Kultur der direkten Einfühlung geht es. Und je mehr wir uns ruhen, in Bereichen, die die transpersonalen Psychologen das hohe Unbewusste oder das Überbewusste nennen, desto mehr haben wir einfach, weil wir in uns gesammelt sind, den rettenden Einfall, die Lösung, mitunter auch Vorherwissen - weil alles mit allem schon verbunden ist. Faktisch werden jedem Menschen diese Informationen zugespielt, aber sie können sie nicht nutzen. Sind es Fähigkeiten, die uns in einer technisierten und vernunftbestimmten Welt verloren
gegangen sind?
In antiken Kulturen ist das alltäglich. Das, was Jesus macht, sind Fähigkeiten eines vollbewussten Menschen. Das sich manifestierende Gebet etwa, wenn er sagt: „… so ihr glaubt, dass ihr‘s schon empfangen habt …“ Mediziner studieren das inzwischen, als Placebo oder Nocebo Effekt, dass unsere Gedanken für die Wirklichkeit, auch für die körperliche Wirklichkeit formgebend sind. Es gibt eine ganz große Macht, die in uns schlummert. Ich glaube schon, dass in der Antike diese Sachen bekannt waren, ich glaube aber auch, dass es wichtig war, vieles von dem zu verlieren. Damit wir heute ganz neu danach suchen. Denn was heute durch die allgemeine Schulbildung und Rationalität dazu kommt, ist die Begriffsbildung und das logische Denken, unsere reflektierte Kultur. Es gibt schon ein Unterschied zwischen der Hellfühligkeit von Hund, Katze, Pferd und unseren menschlichen Möglichkeiten. Wir können durch Konzentration noch mehr Sammlung dazu fügen. Durch die Meditationsforschung können wir mittlerweile sogar die Hirnfrequenzen beobachten, um die es geht. Das Kind ist ja noch der ganz kreative Mensch, der Tagträumer, der Beschützerfiguren erfinden kann, und das alles spielt sich in der Hirnfrequenz 8 bis 14 Hertz ab, es ist eine entspannt nach außen gerichtete Wahrnehmung. Was uns die Schule beibringt, der alles objektivierende, kategorisierende, logisch miteinander verbindende Sinn, der sehr von den Augen dominiert ist, spielt sich in der Frequenz von 14 bis 30 Hertz ab. Die Mediationsforschung hat entdeckt, dass es noch einen Bereich gibt, das ist Bereich Gamma-Band, das sind 30 bis 70 Hertz. Ich nenne das die Glücksfrequenz. Das erleben Menschen als Flow-Zustand. Und das Spannende ist, derselbe Alltag, dieselbe Kommunikation mit denselben Kollegen können wir aus diesem Zustand heraus mit einer ganz tiefen Ruhe und Gleichmaß erleben. Man hat ein neues Persönlichkeitszentrum.
Und das geht im Alltag, ohne Mönch zu sein, ohne in Dauermeditation zu versinken? Sie nennen Ihre Mystik ja „Mystik-to-Go“…
Ich nenne es mein mystisches I-Phone. Ich habe die große barocke Mystik zu drei Grundübungen geschrumpft. Und wer noch weiterüben will, kann noch Zusatzübungen machen. Damit die Leute, ohne zu sterben, hier im Leben die Erfahrung, die auch Menschen mit Nahtod, machen. Das ist die Kernerfahrung. Und die hat viel zu tun mit Schönheit, Vollkommenheit, Verbundenheit, Weisheit.
Verraten Sie die drei Grundübungen?
Also, die erste habe ich schon beschrieben. Es geht darum, die Lieblingstätigkeit zu einer ganz kleinen Geste, die alltagstauglich ist, abzukürzen. Und zu versuchen, mitten in den Wünschen und Pflichten und Anforderungen jede volle Stunde diese Geste zu machen. Damit vergewissern wir uns: ich bin nicht dazu da, zu funktionieren. Für den Anfänger ist es wichtig, einfach zu registrieren, wer hat derzeit Macht über mich, wer beherrscht mein Handelns so, dass ich zu selbstvergessen bin. Die zweite Übung schließt sich an: Sooft es geht, im Alltag, in dieses Gefühl von Glück einzutauchen, in dieses Gefühl, das die Lieblingstätigkeit vermittelt, und es körperlich festzuhalten. Und dritte Übung ist die wichtigste: Mach‘s wie die Mönche. Schaff dir einen eigenen „Konzentrationsjingle“, ein Mantra, dein heiliges Wort, für den einen lautet das „Jesus Christus“, für den anderen „Mein Wesen ist Liebe“. Du brauchst keine Sitzmeditation. Fang mit einer alltäglichen Situation an, wo du es sprechen kannst. Immer vor dem Einschlafen. Immer wenn du mit dem Hund rausgehst. Immer beim Fahrradfahren. Dadurch schafft man sich einen eigenen Ohrwurm, der irgendwann von selbst nachklingt. Und dann geht es darum, den in allen Wartezeiten und Pausen zu wiederholen, denn das sind Momente, in denen in uns ständig Gedanken kreisen – und die Psychologen sagen, dass es zu über 70 Prozent negative Gedanken sind. Nur merken wir es nicht mal. Wir verhexen uns mit negative Gedanken, wir verzaubern uns in hässliche Kröten und Frösche, die voller Sorgen sind. Unsere Gedanken erschaffen unsere Wirklichkeit, sogar körperliche Wirklichkeit. Und unser Mantra bringt das erstmal unter Kontrolle. Und ab da kann man aufräumen.
Sie schreiben: Ich sehe was, das du nicht siehst, das ist das Göttliche, wie es durch die Welt hindurchscheint. Nehme ich, wenn ich Ihre Übungen beherzige, die Welt anderes wahr?
Vorher halte ich für Realität, das, was uns vorbewusst in unseren Köpfen rumspukt. Real wird für mich das, dem ich Aufmerksamkeit schenke. Das gewinnt auch an Kraft. Wenn ich jeden Abend die Nachrichten meditiere – das ist Meditation der Hölle. Aber das ist nicht die Wirklichkeit. Es gibt den Spruch: Only bad news are good news - nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Nachrichtenmachen – das ist auch ein Geschäft, Nachrichten sind Ware, sind ein Produkt. Wollen wir unsre Aufmerksamkeit auf die größten Hornochsen lenken, die auch noch modellhaft Konflikte mit Gewalt lösen wollen, damit es auch noch den Rüstungskonzernen besser geht? Der Ansatz der Mystik ist: Meine Aufmerksamkeit gehört mir. Und ich entscheide bewusst, wem ich wie lange wie viel davon schenke. Mit unserem Mantra strudeln wir erst mal unsere Aufmerksamkeit in uns ein. Dadurch merken wir erstmal, was hat die bisherige Programmierung mit mir gemacht hat. Nicht das Leben ist schlecht, sondern die Programme sind schlecht. Die sind wie Störfrequenzen. Wenn man das Grundrauschen rausgefiltert hat, entdeckt man, was Mystiker immer behaupten, dass der Himmel nicht ein anderer Ort ist. Sondern es ist hier in uns jetzt alles da. Man muss zugegeben, es laufen ein paar Verrückte oder Unbewusste durch das Paradies, aber denen muss man ja nicht die größte Aufmerksamkeit schenken. Sondern jede Muschel, jedes Blatt, jede Schneeflocke ist voller Struktur und Intelligenz – wir sind eher von Weisheit umzingelt. Eine Kultur, die uns ständig von einem Schrecken zum nächsten trägt, erzeugt so etwas wie eine Mediation der Hölle. Das Ziel ist, zu entdecken: Jeder Mensch ist wie Jesus Christus, eine Inkarnation Gottes, Gottes Tempel, durch den Gott jetzt in die Welt schaut und mit dessen körperlichen und mentalen Kräften Gott hier und jetzt Wirklichkeit erschafft. Das ist zugegebenermaßen nicht mehr das mittelalterliche Gottesbild, nicht mehr die Lehre nach dem Motto der große Gott wird angebetet, der Mensch dagegen ist ein kleiner, stinkender Sünder. Es ist eher eine Wiederentdeckung des ursprünglichen Christentums, wie es in der alten griechischen Theologie wichtig ist. Damals wurde gefragt: Warum wurde Gott Mensch? Und die Antwort war: Gott wurde Mensch, damit wir vergöttlich werden. Das ist eine Passivkonstruktion. Das müssen wir gar nicht selbst machen. Sondern es ist etwas, was in uns freigeschaltet wird.
Das hat mit gegenwärtiger kirchlich gepredigter Theologie nicht sehr viel zu tun.
Erlösung geschieht in der griechischen Theologie durch Teilhabe. Teilhabe am Sein Jesu Christi. Von ihm begeistert werden. Verklärt werden. Das ist zugegebenermaßen ein anderes Gottes- und Christusbild, als das, was wir heute lehren. Es geht nicht um Schuld, Vergebung oder Rechtfertigung. Das sage ich gerne, um das ganz klar zu machen. Jesus ist im Neuen Testament der erste und vollkommene Mensch, der Protoyp. Wir sollen in Serie gehen. Dadurch mache ich Jesus aber nicht klein, wie die Rationalisten oder Humanisten, sondern ich nehme das wörtlich, was von seinen mentalen Fähigkeiten berichtet wird. Und ich sage: Das alles wartet in unseren Köpfen noch darauf, freigeschaltet zu werden. Zugegeben, weder unser Bildungssystem oder unser Theologiestudium nehmen das ernst. Das tun andere. Bis hin zum Militärtraining. Dort werden Fähigkeiten wie Fernwahrnehmung gezielt trainiert.
Es geht Ihnen um neue Verbindungen und um neue, alte Fähigkeiten, die jeder Mensch hat?
Mystik, damit können wir das Gespräch rund machen, erzeugt nichts, sondern reinigt die Wahrnehmungssysteme und befreit von dem Ballast, der nicht wesenhaft zu uns Menschen gehört. Wenn wir wieder artgerecht leben, wirkt das Leben nicht mehr mühevoll. Wir sind tatsächlich bestimmt, im Hier und Jetzt glücklich zu sein und die Schönheit des Lebens zu genießen. Wir sollten dieses Menschenrecht wieder entdecken, einfach da zu sein und uns des Lebens zu erfreuen.
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